Esoterik und Spiritualität in Deutschland – eine schwierige Diskussion

Von Kocku von Stuckrad

[ Zur englischen Version dieses Textes geht es hier entlang |  For the English version of this blog post, click here]

Heute wurde eine weitere Folge der ZDF-Sendung „13 Fragen“ ausgestrahlt, ein Debattenformat, in dem zwei Gruppen mit drei Personen, positioniert auf einem Spielfeld, die jeweils andere Gruppe von ihren Argumenten zu überzeugen versuchen. Immer wenn ein Ansatz zur Verständigung sichtbar wird, gehen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen Schritt aufeinander zu. Ein Format also, das sich dem Trend zur Polarisierung widersetzt und die Suche nach Kompromissen fördert. Als mich die Moderation vor einigen Wochen fragte, ob ich an einer Sendung zur kontroversen Diskussion um „Esoterik und Spiritualität“ teilnehmen möchte, sah ich dies als eine gute Möglichkeit zur Versachlichung und Nuancierung der öffentlichen Debatte, die gerade in Deutschland überaus polemisch und emotional geführt wird. Also sagte ich zu.

Die „13 Fragen“ kreisten um die Kernfrage, ob Esoterik und Spiritualität lediglich harmlose Elemente einer individuellen Haltung zur Welt darstellen („Team 1“), oder ob sich dahinter eine gefährliche Bewegung mit rechtsradikalem und demokratiefeindlichem Potenzial verbirgt („Team 2“). Klar, dass ich angesichts dieser Optionen bei „Team 1“ landete. Was dann in der Diskussion geschah, kann als sinnbildlich für die öffentliche Meinungsbildung zu Esoterik und Spiritualität in Deutschland betrachtet werden.

Seit über 30 Jahren gibt es eine professionelle wissenschaftliche Esoterikforschung, die heute mit internationalen wissenschaftlichen Vereinigungen, Fachzeitschriften, Handbüchern, Überblicksdarstellungen und Studienprogrammen vertreten ist. Auch in Deutschland gab es erfolgreiche Forschungsprogramme, etwa zu „Aufklärung und Esoterik“, und im letzten Jahr startete die große DFG-Forschungsgruppe „Alternative Rationalities and Esoteric Practices from a Global Perspective“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Das Erstaunliche ist nun, dass die deutsche Öffentlichkeit von dieser Forschung praktisch nichts mitbekommt. Was in Deutschland die öffentliche Meinung dominiert, sind Positionen, die Esoterik und Spiritualität entweder ins Lächerliche ziehen oder als „gefährlich“ einstufen, wobei keine dieser Positionen sich genötigt fühlt, die wissenschaftliche Forschung zum Thema überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Dennoch präsentiert sich die „Esoterikkritik“ mit dem Gestus der Wissenschaftlichkeit, die die Fackel der Aufklärung ins Dunkel des Aberglaubens tragen möchte (diese Selbstüberschätzung habe ich an anderer Stelle kommentiert). Auch in unserer Diskussion bei „13 Fragen“ war ich zwar der einzige Wissenschaftler in der Runde, doch die Rhetorik von wissenschaftlicher Wahrheit gehörte ganz „Team 2“.

Natürlich gibt es in der Esoterikforschung unterschiedliche Ansätze, die sich über die Jahre in kritischem Dialog verändert und zu Neuorientierungen geführt haben. Und es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – darunter ich selber –, die der analytischen Leistungsfähigkeit des Begriffs „Esoterik“ skeptisch gegenüberstehen. Doch in der Forschung ist man sich im Allgemeinen darüber einig, dass Esoterik mit Wissensansprüchen zu tun hat, die bisweilen dem vorherrschenden religiösen oder wissenschaftlichen Wissen zuwiderlaufen; historische Analyse zeigt dann, wie bestimmte Wissensformen in konkreten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entweder akzeptiert oder ausgegrenzt werden – und das ist keineswegs eine geradlinige Entwicklung, sondern eher ein Palimpsest von religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Alternativen, die in bestimmten Situationen immer wieder auftauchen.

Der Religionswissenschaftler Burkhard Gladigow nannte dies die „mitlaufenden Alternativen“ der europäischen Religionsgeschichte, zum Beispiel das göttliche Wissen eines Hermes („Hermetik“) oder eines Odin, die Lehren legendärer Philosophen wie Zarathustra und Platon, oder religiös-philosophische Alternativen, die Europa im Zuge der kolonialen Expansion kennenlernte (hier ein Update zu seiner Theorie).

All diese Alternativen – gerade auch die Faszination für außereuropäische Wissenskulturen – sind seit dem 19. Jahrhundert Teil von „Esoterik und Spiritualität“ in Europa und Nordamerika. Gruppierungen wie die 1875 von Helena P. Blavatsky und anderen gegründete Theosophische Gesellschaft und die daraus hervorgegangene Anthroposophische Gesellschaft (1912 von Rudolf Steiner gegründet) sind wichtige „Durchlauferhitzer“, wenn es um die enorme Pluralisierung des religiösen und weltanschaulichen Feldes im 20. Jahrhundert geht. Darauf baute die sogenannte New Age-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre auf. Damals noch mehr oder weniger marginalisiert, sind die als „New Age“ bezeichneten Ansichten und Praktiken heute Mainstream in Europa und Nordamerika. Der „Boom“ von Astrologie, Tarot, Reinkarnationsdenken, Hexentum oder magischen Ritualen ist also keineswegs eine ganz neue Erscheinung, sondern hat eine Vorgeschichte, die sich klar rekonstruieren lässt.

Doch anstatt diese religiös-weltanschauliche Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen und das große Spektrum esoterischer und spiritueller Bewegungen differenziert zu betrachten, beschränkt sich die deutsche Öffentlichkeit darauf, die Esoterik als „Geheimwissen“ zu bezeichnen und auf die vermeintliche Nähe dieses Gedankenguts zu rechtsradikalen, antisemitischen und antidemokratischen Tendenzen hinzuweisen (eine Kritik an der Esoterik übrigens, die man in anderen Ländern kaum findet). Dann werden Zitate aus dem riesigen Werk von Helena P. Blavatsky (1831–1891) oder Rudolf Steiner (1861–1925) genommen und mit Aussagen von homöopathischen Ärztinnen und selbsterklärten Schamanen auf „Anti-Corona-Demos“ oder im „Reichsbürger“-Milieu in einen Topf geworfen und anschließend auf alle anderen „Esoteriker*innen“ übertragen, von Wicca-Anhängerinnen bis zu Astrologen und „Neuheiden“. Wenn man solche Konstruktionen aus historischer oder soziologischer Sicht betrachtet, kann man nur staunen über die handwerklichen Fehler und das Maß an Simplifizierung in der Argumentation.

Damit will ich keineswegs behaupten, Esoterik und Spiritualität böten keine Anknüpfungspunkte für Menschen mit antidemokratischen, rassistischen oder antisemitischen Überzeugungen. Dazu gibt es gute wissenschaftliche Literatur. Wenn ein Drittel der deutschen Bevölkerung empfänglich ist für antisemitische oder rassistische Stereotypen, wäre es schon ein Wunder, wenn man diese Vorurteile nicht auch im esoterischen Milieu fände. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass „die Esoterik“ der Grund für solche intoleranten Tendenzen ist, kann nicht überzeugen.

Dasselbe gilt für die Behauptung, zur Esoterik gehöre ein „Geheimwissen“, das nur Insidern zugänglich ist, die dann in eine tiefe Abhängigkeit von den jeweiligen Gruppenleitern („Sektenführern“, „Gurus“) gerieten. Problematische Gruppendynamiken und kriminelle Ausbeutungssituationen gibt es überall, von der katholischen Kirche bis zum Sportverein, und die demokratische Rechtsordnung tut gut daran, solche Machenschaften zu verfolgen und den Opfern Hilfe anzubieten. Doch die Behauptung, esoterische oder spirituelle Gruppen seien für derartiges Fehlverhalten strukturell prädestiniert, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen.

Deutschland und Westeuropa sind heute von einer weltanschaulichen Pluralisierung geprägt, die historisch neu ist. Das Vertrauen in institutionelle Wissensformen von Religion, Wissenschaft und Politik ist geringer als in früheren Epochen; das Christentum ist dabei, von einer hegemonialen Macht zu einer „mitlaufenden Alternative“ zurechtgestutzt zu werden (und wehrt sich mit allen Kräften dagegen); in ihrer Suche nach Identität und Sinn experimentieren viele Menschen mit spirituellen und philosophischen Angeboten, die sie überzeugender finden als jene Systeme, die als Ursache für die globalen Krisen der heutigen Welt betrachtet werden können.

Es gibt keinen Grund, diese Suche nach Alternativen zu kritisieren oder ins Lächerliche zu ziehen. Eine demokratische Gesellschaft, die diesen Namen verdient, kann weltanschauliche Unterschiede aushalten. Die Grenzen des Akzeptierten werden nicht von einer dominanten gesellschaftlichen Gruppe oder irgendeiner Gesinnungspolizei gezogen, sondern von der rechtsstaatlichen Ordnung.

Was wir brauchen, ist eine offene und gut informierte Diskussion, die kritisch mit den eigenen Vorurteilen und Projektionen umgeht und sich darauf einlässt, anderen zuzuhören und sie nicht vorab schon zu verteufeln. Dieses Ziel ist einer der Gründe, warum wir Counterpoint: Navigating Knowledge gegründet haben. Formate wie „13 Fragen“ unterstützen diese Suche nach Verständigung, und dafür bin ich der Moderation dankbar.

#

Kocku von Stuckrad ist einer der Mitbegründer und Co-Direktoren von Counterpoint: Navigating Knowledge. Als Professor für Religionswissenschaft an der Universität Groningen (Niederlande) arbeitet er zur Kulturgeschichte von Religion, Wissenschaft und Philosophie in Europa und Nordamerika. Sein jüngstes Buch ist Die Seele im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte (Wilhelm Fink). Er lebt in Berlin.


Counterpoint Blogposts können weiterverwendet werden, sofern die Originalversion genannt wird, mit folgendem Hinweis: “Dieser Text erschien zuerst auf der Webseite von Counterpoint: Navigating Knowledge am 31. Mai 2023.” Die Ansichten und Meinungen, die auf dieser Webseite, ihren Publikationen und Kommentaren veröffentlicht werden, sind die der jeweiligen Autor*innen und geben nicht unbedingt die Ansichten und Meinungen von Counterpoint: Navigating Knowledge, seinen Gründer*innen, Mitarbeiter*innen, oder angeschlossenen Personen oder Institutionen (einschließlich der Institutionen, an denen die Autor*innen arbeiten) wider. Counterpoint wurde gegründet, um eine lebendige Diskussion zwischen verschiedenen Wissenssystemen anzuregen und veröffentlicht deshalb eine große Vielfalt von Ansichten und Meinungen im Interesse eines offenen Gesprächs und Dialogs.

Fotonachweis: Hilma af Klint, Ohne Titel, 1920. Foto von Albin Dahlström, Moderna Museet, Stockholm. Mit freundlicher Genehmigung der Hilma af Klint Foundation, Stockholm, und dem Guggenheim Museum. Download von “Hilma af Klint: Beyond the Visible #2”. Hilma af Klint, die schwedische Vorreiterin abstrakter Kunst, war Teil des spirituellen und theosophischen Milieus ihrer Zeit und diskutierte ihre Arbeiten mit Rudolf Steiner.


Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *