Kritik jenseits polarisierender Selbstvergewisserung: Hamas, Israel und die deutsche Diskussionskultur

Von Markus Dreßler

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Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober des letzten Jahres auf ein Musikfestival und jüdische Dörfer nahe der Grenze Gazas sowie die sich anschließende und andauernde Offensive Israels bewegen die deutsche Öffentlichkeit. Die Debatte ist extrem polarisiert, wird oft sehr emotional geführt. Dies zeigt sich in der Verwendung bestimmter Schlüsselbegriffe und rhetorischer Figuren, über welche die jeweils eigene Position legitimiert und die Gegenpositionen delegitimiert werden: Genozidvorwürfe werden in beide Richtungen ausgetauscht und der Antisemitismusvorwurf findet sein rhetorisches Gegenüber im Begriff der Islamfeindlichkeit. Dadurch werden moralische Positionierungen vorgenommen: Wird der Hamas-Überfall bei Anklagen des israelischen Angriffs auf Gaza nicht erwähnt, dann wird dies schnell als stumme de-facto Rechtfertigung des Hamas-Terrors ausgelegt und mit Antisemitismus assoziiert (jüngst bei Reaktionen nach den Solidaritätserklärungen mit Gaza während der Berlinale). Umgekehrt wird Unterstützer:innen der israelischen Regierung unterstellt, sie verteidigten implizit eine Politik der Apartheid und Vertreibung.

Beide Seiten bezichtigen sich gegenseitig, jeweils unterschiedliche Maßstäbe bei der Beurteilung von Gewalt und Leid anzulegen und argumentieren im Duktus moralischer Überlegenheit. Die Debatten scheinen einem algorithmischen Prinzip zu folgen. Stabilisierte politische Grundannahmen und mit diesen verknüpfte Werturteile werden als Muster für die Interpretation einzelner Ereignisse des Konflikts aktiviert und ständig verstärkt. Dabei muss man eigentlich kein Nahostexperte sein, um zu erkennen, dass die Eindeutigkeit vieler der öffentlich vorgetragenen Stellungnahmen zu dem Konflikt im markanten Gegensatz zu einer politisch hochkomplexen und in vielen Details unübersichtlichen Lage steht.

Ein Beispiel für die skizzierte Polarisierungsdynamik ist die Leipziger Diskussion um den Co-Vorsitzenden des örtlichen Migrantenbeirates Mohamed Okasha. Dieser hatte in der Folge des israelischen Angriffs auf Gaza, genauer am 9.11. – Jahrestag der „Kristallnacht“ 1938 – einen Instagram-Post weitergeleitet, in welchem der israelische Angriff als Genozid bezeichnet wurde, die Shoah selber in Zusammenhang mit anderen Kriegsverbrechen wie dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima verglichen und eine verschwörungstheoretische Verbindung zwischen diesen Ereignissen hergestellt wurde. Es folgte heftige Kritik von Stadtpolitiker:innen sowie der lokalen Presse. Relativierung des Holocaust und Antisemitismus waren die Hauptvorwürfe. Okasha hat daraufhin seinen Post gelöscht und sich öffentlich für dessen Zeitpunkt und Inhalt entschuldigt. In mehreren Interviews hat er zu den Vorwürfen Stellung genommen und seine eigene israelkritische Position erläutert (Leipziger Volkszeitung, 11./12.11.2023). Obwohl Okasha sich dabei ausdrücklich gegen eine Relativierung des Holocaust ausspricht, auch keine explizit antisemitischen Äußerungen von ihm bekannt sind, er sich vielmehr auch in der Vergangenheit nachdrücklich gegen Rassismus in jeglicher Form positioniert hat, wurde der im Zuge seines Posts gegen ihn, den „gebürtigen Ägypter, der mittlerweile deutscher Staatsbürger ist“,  vorgebrachte Antisemitismusverdacht von mehreren Parteien des Stadtrats erneuert und fand auch entsprechenden Niederschlag in der Lokalpresse (Leipziger Volkszeitung vom 15.11.23 und 5.3.24; Kreutzer 15.11.23).

Der auch vom Leipziger OB Burkhard Jung in seiner Kritik an Okasha (Leipziger Volkszeitung, 11./12.11.2023) bemühte Bezug auf die „deutsche Staatsraison“, um Solidarität mit Israel einzufordern und sich gegen jegliche Spielart des Antisemitismus zu positionieren, versteht das Problem als ein dezidiert deutsches, verknüpft mit der Erfahrung des Holocaust und dessen politischem Erbe (hierzu Ralf Michaels). Es ist nicht selten, dass in diesem Diskurs ein sehr weiter Antisemitismusbegriff angelegt wird, der auch Kritik am „Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird,“ miteinschließt. Kritiker:innen dieser sich an die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken anschließenden weiten Definition argumentieren, dass diese den Begriff des Antisemitismus verwässerte. Mit aus dieser Motivation heraus schlägt die Jerusalem Declaration eine engere Definition vor, die sich mit Nachdruck dafür einsetzt, dass Kritik am israelischen Staat und seinen Institutionen ebenso wie dem Zionismus an sich nicht als Antisemitismus verstanden werden sollte.

Die Frage muss erlaubt sein, in welchem Maße ein Bekenntnis zur deutschen Staatsraison als einer historisch im Holocaust begründeten besonderen Verantwortung gegenüber Juden und dem Staat Israel von allen Bewohner:innen dieses Landes erwartet werden kann. Als Biodeutscher mit familiären Wurzeln in Nazideutschland kann ich die Rede von der besonderen Verantwortung und daraus abgeleiteten Handlungsmaximen unterschreiben – sie sind Teil meiner Familienbiographie und damit meines Erfahrungsschatzes. Es ist absurd, dies von Migrant:innen ohne diesen historischen Hintergrund in gleichem Maße einzufordern. Mit dem Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft kann man deshalb zwar eine rationale Sensibilität für das historische Erbe des Nationalsozialismus als dem dominanten Bezugspunkt deutscher politischer Identität erwarten, nicht aber eine vergleichbare affektive Identifikation mit demselben. Okasha fordert regelmäßig ein, dass in einer postmigrantischen Öffentlichkeit die Erfahrungen nicht nur biodeutscher sondern auch migrantischer Perspektiven Gehör finden müssten. Momentan stößt diese Forderung auf wenig Widerhall. Die Frage stellt sich, ob ein von „deutscher Staatsraison“ dominierter Diskursraum die Hörbarkeit postmigrantischer Positionen nicht unterdrückt.

Die Leipziger Debatte steht symptomatisch für eine Suche nach normativer Klarheit und Orientierung in der Folge des jüngsten Gewaltausbruchs in Israel/Palästina. Während der in seiner Brutalität extrem verstörende terroristische Angriff der Hamas vom 7. Oktober auf israelische Zivilisten zu Recht verurteilt wird, ist es in Deutschland trotz der systematischen Zerstörung des Gaza und der daraus resultierenden humanitären Katastrophe oft schwieriger, auf Gewalt und Diskriminierung von Seiten des israelischen Staates gegenüber Palästinenser:innen mit vergleichbarer Betroffenheit zu reagieren. Tatsächlich scheint unser Vermögen für Empathie begrenzt und sich an unseren politischen Positionen zu orientieren. Entsprechend gibt es in der deutschen Öffentlichkeit relativ wenig Raum für alternative Positionen, die sich zum Beispiel in der jetzigen Debatte in gleicher Radikalität sowohl von der Gewalt der Hamas als auch derjenigen der israelischen Streitkräfte distanzieren (wie Burkard Liebsch mit historischer Tiefenschärfe). Die Konsequenz einer solchen Position wäre, Druck auf die eigene Regierung auszuüben, sowohl Hamas als auch Israel jegliche Unterstützung jenseits von humanitären und friedensorientierten Maßnahmen zu verweigern.

Eine friedensorientierte Position sollte sich gegen die Gewalt auf allen Seiten stellen, unabhängig von der ethnischen und religiösen Zuordnung der jeweiligen Täter. Das bedeutet kein Ignorieren der in der Debatte ohnehin weitgehend ausgeblendeten historischen Hintergründe des gegenwärtigen Konflikts (inklusive des sich in diesem manifestierenden Kräfteungleichgewichts), richtet sich aber kategorisch gegen die Legitimation von Terror (beider Seiten). Dass eine solche Position momentan schwer Gehör findet, liegt sicher auch an der Dynamik der polarisierenden Selbstvergewisserung: in der öffentlichen Debatte werden bestimmte politische Positionen moralisch aufgeladen, bilden sich dominante Narrative und Interpretationsmuster. Hiervon abweichende Positionen werden marginalisiert oder gar tabuisiert. Werden politische Auseinandersetzungen jedoch allzu schnell moralisch codiert, verschwindet der Raum für differenzierte Auseinandersetzungen. Was bleibt, ist die Zuordnung zu einem der beiden Lager. Das jedoch ist keine gute Grundlage für eine kritische, aber respektvolle Streitkultur, die zuhört, bevor sie urteilt. Es ist auch keine erstrebenswerte Entwicklung in Demokratien, die per definitionem auf der Akzeptanz verschiedener Positionen und Haltungen beruhen.

Deutschland braucht in seiner Debattenkultur dringend ein Bekenntnis zu Pluralismus und Respekt in öffentlichen Auseinandersetzungen um sensible politische Themen. Eine offene und plurale Gesellschaft lebt davon, dass man politische Minderheitenpositionen angstfrei vortragen darf, dass man – solange grundlegende demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien nicht in Frage gestellt werden – einen respektvollen Umgang auch mit Andersdenkenden anstrebt, diese nicht in die Autozensur treibt oder direkt zensiert. Allerdings: ob die jüngere deutsche Diskussionskultur bei politisch sensiblen Themen wie der Corona- und Impfdebatte, dem russischen Ukrainekrieg und jüngst dem Israel-Palästinakonflikt den Stresstest einer offenen pluralen Streitkultur erfüllt, kann man sicher in Frage stellen. Wer bei einem dieser Themen eine, im öffentlichen Diskurs zumeist sehr klar erkennbare, Minderheitenposition vertritt, unterliegt schnell der Gefahr einer moralischen Verurteilung durch sich in diesen Debatten etablierende Mainstream-Positionen („Emanzipatorische Medienkritik: Selbstreflexion jetzt!“). Bestenfalls wird ihren Vertreter:innen Naivität attestiert; häufig begegnet man missliebigen Positionen mit Arroganz oder sie werden aus dem legitimen Diskursraum ausgeschlossen.

Jedoch dürfen im Verlauf bestimmter Debatten entstehende Mehrheitspositionen nicht dazu führen, dass die sich parallel hierzu herausbildenden Minderheitspositionen (parteipolitische Minderheiten, Impfgegner:innen, Israelkritiker:innen usw.) vorschnell delegitimiert oder gar moralisch desavouiert werden. Dieser Gefahr sollten wir mit dem Bekenntnis zu einer möglichst hierarchiefreien Diskussionskultur entgegentreten.

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Markus Dreßler ist Heisenberg-Professor für Moderne Türkeiforschung an der Universität Leipzig. Davor unterrichtete er Vollzeit an Universitäten in den USA, der Türkei und Deutschland. Seine Hauptforschungsinteressen und die Bereiche, in denen er hauptsächlich publiziert hat, sind Alevitische Studien; Religion, Politik und Gesellschaft im späten Osmanischen Reich und der Türkei; Religion und Säkularismus; Begriffsgeschichte. Gegenwärtig leitet er zwei Projekte der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema „Umstrittene Frömmigkeit und Säkularität: Familien- und Jugendpolitik in der post-kemalistischen ‚Neuen Türkei‘“ und „Negotiating Modern Sino-Muslim (Hui) Subjectivities, 1900-1960: Reforming Islam in China“.


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